Gentilhomme d’opéra

Noblesse, Stilsicherheit, Phrasierungskunst:
Der weltläufige Tenor Libero de Luca

Seit sich in den 1960er Jahren auch in Mitteleuropa die festen Ensembles auflösten, um einem De-facto-Stagionebetrieb zu weichen, gibt es kaum noch Opernhäuser mit rein deutschsprachiger Aufführungspraxis und gänzlich deutschen Sängeraufgeboten. Selbst dort, wo man – etwa an kleineren und mittleren Theatern –weiterhin Kernteams für Basisbesetzungen finden kann, ist ein beständiger Spielbetrieb nur mit Sängerpersonal von interkontinentaler Herkunft zu sichern: Auf allen Musikbühnen erlebt man heute selbstverständlich Gesangssolisten aus ganz Europa, Amerika, Asien in bunter Vielfalt, gleich ob an Welthäusern oder Provinzbühnen.

In der Mehrzahl der Operninstitute deutscher Kulturtradition war das bis weit in die Ära nach dem 2. Weltkrieg hinein unvorstellbar. Kleine wie ganz große Häuser spielten das gesamte Weltrepertoire in deutscher Sprache. Gelegentliche ausländische Gäste, selbst Stars aus Übersee, fügten sich dieser Praxis ein. Es mussten schon, so 1954/55 an der Württembergischen Staatsoper, Weltberühmtheiten wie Tebaldi und Björling kommen, um den Ausnahmefall einer zweisprachigen Aufführung (in Stuttgart Tosca und La Bohème mit deutschem Ensemble und Chor plus original-italienisch singendem Stargast) zu rechtfertigen.

Ausländische Sängerinnen und Sänger als Mitglieder oder Regelgäste in deutschen Opernensembles waren (außer an der immer international gewesenen Wiener Staatsoper) also Ausnahmen: So der amerikanische Mezzo Irene Dalis und der kroatische Bassbariton Tomislav Neralic in Berlin, der Tenor Eugene Tobin in Stuttgart wie der Bassist Kieth Engen in München (beide US-Amerikaner) oder osteuropäische Gäste auf den Opernbühnen der DDR. An der Hamburgischen Staatsoper gehörte die ebenfalls amerikanische Lyrische und Zwischenfach-Sopranistin Anne Bollinger bis zu ihrem frühen Tod zum festen Solistenstamm, genau wie der ohnehin in Deutschland bekannt gewordene holländische Bassist Arnold van Mill. Furore aber machte am selben Haus seit Beginn der 1950er Jahre ein akzentfrei deutsch singender Tenor mit Starqualitäten, rasch populär und auch im deutschen Medienbetrieb sofort vielgefragt: Libero de Luca (*1913 – † 1997), Schweizer aus dem Kanton Thurgau, mit italienischem Namen und internationalem Repertoire, doch primär der französischen Gesangstradition zugehörig.

Willkommener Gast in Mangelzeiten

In Deutschland sprach man damals überall von Tenorkrise, Tenornot, Tenorproblem. Peter Anders starb 1954, Josef Traxel war erst im Aufstieg, Schock seit seinen Filmerfolgen vor allem medial omnipräsent – und fast alle waren eher Lyriker. Deutsch gesungene Tenorpartien des italofranzösischen Repertoires wurden einerseits mit leicht-lyrischen (Haefliger, Kesteren, Wilhelm, Bartel,), andererseits mit dramatischen (Aldenhoff, Windgassen, Hopf) oder gar heroischen (Suthaus, Beirer) Stimmen besetzt, offenbarer Zwangslage gehorchend. Angesichts des vielbeschworenen Tenormangels war im aktuell dünnen Angebot an Zwischenfachtenören deutscher Provenienz ein hochrangiger polyglotter, dem deutschen Kulturerbe zugewandter Tenor wie Libero de Luca willkommene Erstwahl, vor allem für Kernbereiche der romantisch-veristischen Oper des 19. Jahrhunderts: Verdi und Puccini, auch Donizetti, ein paar sog. Veristen und Gounod, Thomas, Bizet, Massenet.

Über seine häufige Hamburger Präsenz kam Libero de Luca schnell zu Rundfunkaufnahmen, neben mehreren Solostücken zu einer Handvoll deutschsprachiger Gesamteinspielungen von beachtlicher Fachbreite: Verdis Rigoletto und Don Carlos, Puccinis La Bohème, Leoncavallos Bajazzo, Méhuls Joseph in Ägypten. In diesen Aufnahmen erweist er sich als souveräner, einerseits stilistisch adäquater Interpret italienischer und französischer Werke, andererseits akzentfrei artikulierender Vermittler deutscher Gesangsdramaturgie.

Man muss sich bewusst machen, was in der zweiten Jahrhunderthälfte von der Schallplattenindustrie aus rein vermarktungsbezogenen Motiven an fach- und stilwidrigen Tenorbesetzungen realisiert wurde. Neben optimalen Versionen, etwa mit Alain Vanzo, und respektablen Interpretationen der stilistisch kundigen Nicht-Franzosen Nicolai Gedda oder Alfredo Kraus: in wachsendem Ausmaß Vertreter der italienisch-spanischen Kategorien Lirico spinto oder Drammatico, wie Corelli,  del Monaco, Domingo, Pavarotti, Carreras als Gounods Faust und Roméo, Halévys Eléazar, Bizets Don José, Massenets Werther, Des Grieux, Nicias bis zu Berlioz’ Énée und Saint-Saëns’ Samson. Da werden Bedeutung und Wert eines im Style français so versierten, ja identischen Sängers wie Libero de Luca offenkundig. Das bemisst auch seine Position in der Gesangshistorie.

Auf der Basis europäischer Kultur

Libero de Luca kam aus, wie man so sagt, bürgerlichem Bildungsmilieu. Er wurde 1913 in Kreuzlingen (Thurgau) geboren, erhielt eine höhere Schul- und akademische Universitätsausbildung. Sein Hauptfach war Architektur. Doch ihn fesselte die abendländische Musik, besonders die deutsche Musikkultur. Als bereits 20jähriger Anfänger schrieb er sich an der Münchner Musikhochschule für mehrere Musikfächer ein, darunter als Gesangsschüler bei dem Kammersänger Max Kraus. Der diagnostizierte eine Baritonstimme und führte den Studenten zunächst ins Fach eines Baritono lirico oder Kavalierbaritons, wie man das damals nannte. Der junge Sänger fühlte sich auf diesem Weg nicht recht wohl, ging 1936 nach Zürich zurück, sang dort bei dem Pädagogen Alfredo Cairati vor, der die leichte, entspannte Höhe eines Tenors erkannte. Er nahm eine kurze erfolgreiche Umschulung vor.

1937 nahm de Luca am Concours International du Chant während der Pariser Weltausstellung teil – und gewann einen Ehrenpreis. 1941, bereits als Berufssänger tätig, errang er den 1. Preis beim führenden Schweizer Gesangswettbewerb in Genf. Wenige Monate zuvor hatte er im Herbst 1940 sein Bühnendebüt am Städtebundtheater Solothurn-Biel geben können. Mit der nächsten Spielzeit kam er ans Mehrspartentheater der Bundeshauptstadt Bern. Von dort wurde er an das führende Schweizer Institut, das Opernhaus Zürich, engagiert – mit dem Vertrag eines 1. Tenors fürs lyrische Fach. Er stieg bald auf zu einer festen Größe des Schweizer Musiklebens, sang in Zürich eine Vielfalt französischer, italienischer und deutscher Partien, darunter 1946 die Uraufführung des Unsterblichen Kranken von Hans Haug, 1949 die Uraufführung der musikhistorisch bedeutenderen Schwarzen Spinne von Willy Burkhard. Wichtiger noch waren 1943/44 seine Auftritte in den Schweizer Erstaufführungen von Hector Berlioz’ La Damnation de Faust (Titelpartie) und Arthur Honeggers Le Roi David.

Mit solchen Ereignissen wurde der schon über 30jährige Tenor über die Grenzen der Schweiz hinaus bekannt. Er legte Wert darauf, auch im Konzertrepertoire tätig zu sein, als Liedinterpret und als Solist in symphonischer und Chormusik. Er erweiterte sein Spektrum auf Werke der Wiener Klassik wie des 20. Jahrhunderts. Er sprach und sang neben seiner Geburtssprache Deutsch fließend Französisch, Italienisch und Englisch.

Bald wurde er zu internationalen Operngastspielen verpflichtet, zunächst in Frankreich und Italien, dann auch in Deutschland, Westeuropa, der englischsprechenden Welt und in Übersee: ab 1948 am Covent Garden London, am San Carlo Neapel, an LaMonnaie Brüssel, den Staatsopern Hamburg, München, Wien und am Teatro Colón Buenos Aires. Den Höhepunkt seiner Opernlaufbahn erreichte er 1949 mit einem Festengagement an der Opéra-Comique Paris; als Gast kam er auch an die Grand-Opéra. An der Comique sang er jahrelang ein breites französisches Repertoire, von Auber über Berlioz und Massenet bis zur Moderne, dazu in französischer Sprache italienische Partien, vom Lirico wie Alfredo und Rodolfo bis zum Spinto wie Radames und Canio. Einen persönlichen Triumph konnte er schon 1948 an der Grand-Opéra als Edgardo in Donizettis Lucia di Lammermoor neben der legendären Koloraturprimadonna Lili Pons feiern. Bis 1960 war er der Tenorstar beider Pariser Opernhäuser. Seine Gastspiele in Oper und Konzert führten ihn durch die Schweiz (Basel, Bern, Zürich) und Frankreich (Bordeaux, Marseille, Straßburg), immer wieder auch nach Deutschland mit dem Schwerpunkt Hamburg.

Premier Chanteur français

So dünn mit Erstrangsängern besetzt, wie das jugendlich-dramatische Tenorfach in Deutschland bis zum Beginn der 1960er war, so wenige stilsichere Fachvertreter im klassischen Sinn gab es auch in Frankreich und im französischen Repertoire. Aus Monaco stammte der zentrale französische Tenor, dessen Karriere 1954 begann: Alain Vanzo. Aus der südlichen Grenzregion Frankreichs kamen Pierre Fleta (Sohn des legendären Miguel) und der dramatischere Guy Chauvet, aus Paris Henri Legay, aus Toulon Jean Giraudeau – damit ist der Kreis der Tenorprominenz beinahe ausgeschritten, die übrigen waren durchwegs Tenorini mit Eignung eher fürs Legère- und Bouffe-Fach. Die bekannteren der über Medien erfolgreichen „Ténors français de première cathégorie“ im sechsten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts stammten von anderswo, freilich aus Regionen mit frankophiler Kultursozialisation: so die Kanadier Raoul Jobin, Richard Verreau und Léopold Simoneau, die Spanier Alfredo Kraus und Jaime Aragall, vor allem der schwedisch-russische Jahrhunderttenor Nicolai Gedda.

In solchem Umfeld war ein Tenor vom Karat des Libero de Luca in Frankreich erste Wahl. Er war es auch, den die französische Decca für den Weltkatalog des Konzerns in Gesamtaufnahmen einer Reihe von Standardwerken der französischen Opernliteratur herausstellte: Don José in Bizets Carmen, Wilhelm Meister in Thomas’ Mignon, Gérald in Delibes’ Lakmé, Des Grieux in Massenets Manon. Seine Mozart-Partien sind leider undokumentiert geblieben, abgesehen von einem Live-Mitschnitt der Così fan tutte aus dem Grand-Théâtre de Genève.

Ungeachtet seiner Bedeutung als, neben Vanzo, führender klassisch-französischer Tenor seiner Zeit ist Libero de Luca auf Tonträgern unzureichend vertreten. Seine schmale Diskographie lässt sich nur durch die deutschsprachigen Rundfunk-Gesamtaufnahmen und wenige weitere Live-Funde ergänzen – sonst hätten wir keinen Verdi und keinen Puccini von ihm. Aus Belcanto-Partien, für die er sehr geeignet gewesen wäre, konnte er nur Fragmente aufnehmen. Hingegen gab es noch ein paar zur Zeit nicht greifbare Einzeltitel, so bei DG die „Holde Aida“ und Josés „Blumenarie“ in deutscher Version, auch Tenorschmankerl aus klassischen Operetten.

Herbsüße Farbe. Klassisches Legato.

Libero de Luca repräsentierte stilistisch – musikalisch, stimmlich, singdarstellerisch – den französischen Tenor der „mittelschweren“ Kategorie zwischen Lyrique und Dramatique. Sein Material evoziert nicht das ebenmäßig-leuchtende, wärmende, weißgolden schimmernde lyrische Tenorflair eines Edmond Clément und auch nicht die brillante metallisch blitzende Spintofarbe eines Georges Thill; er ist den universal orientierten „mittleren“ Tenorgewichten wie Lucien Muratore, Charles Dalmores oder Miguel Villabella näher. Das pure Timbre war nicht samtig-duftig à la Simoneau, sondern eher herbsüß „mit Körper“ wie Vino secco vom Typus Chardonnay.

Die auf allen Registern einheitlich verblendete, schlank gebildete, aber zu dynamischer Ausdrucksgestik befähigte Stimme wurde in perfektem Legato geführt. Sie bewahrte auch in dramatischen Partien wie José, Don Carlos, Radames immer eine lyrische Grundstruktur, wirkt nie an ihre Grenzen getrieben, durchwegs edel und kultiviert. De Lucas Gesang verströmte stets einen Hauch von Noblesse und weltmännischer Eleganz. Weil sich die Belcanto-Renaissance zur Zeit seiner Ausbildung noch nicht einmal ankündigte, gehörte er zu den Sängergenerationen, die nicht für fioriturenreich verzierten Gesang trainiert wurden, also im Nachhall des Verismo standen. Umso wertvoller ist seine strikte Orientierung am Phrasierungsprinzip der klassischen Gesangsschule. Dazu gehörten natürlich präzise Intonation und sorgsame Artikulation. Man vernimmt keine Drücker, keine Manieren, schon gar keine außermusikalischen Effekte. Maß und Musikalität, Stilsicherheit und eine charakteristisch kultivierte Aura gehen von diesem Sänger aus. Ein tüchtiger Musiker, wissender Künstler und Weltmann zugleich.

Er beendete seine Karriere früh: 1961 gab er seine letzten öffentlichen Auftritte. An seinem Wohnsitz in Horn am Schweizer Bodenseeufer praktizierte er als Gesangspädagoge, lebte als Kulturbürger mit vielfältigen Interessen und wacher Anteilnahme am Kulturgeschehen. Er verkörperte einen Sängertypus, den es heute kaum mehr gibt. Seine tönende Hinterlassenschaft wird ihm nur begrenzt gerecht. Umso wichtiger sein Weiterleben in der Erinnerung der Freunde klassischer Gesangskunst.

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© Klaus Ulrich Spiegel