Identität aus der Einheit
von Aktion und Produktion

Autorenbuchhandlung München / Lesung Dieter Lattmann
aus „Die lieblose Republik“ am Do., 14. Mai 1981 / Einleitung KUS

Foto: Volker Derlath

Die Lesung eines Autors einzuleiten, das heißt wohl: eine Schöpferperson charakterisieren, Mutmaßungen über ihre Motive anstellen, ihre Ausdrucks-mittel beschreiben, das Arbeitsergebnis einordnen. Also: Dem Textmaterial, das zu Gehör gebracht werden soll, den Filter einer subjektiven Wertung vorschalten und den Zuhörer damit an Maßstäbe binden, die keineswegs die seinen sein müssen. Dieses Verfahren erscheint umso sinnvoller, je unbekannter und förde-rungsbedürftiger der Autor ist. Es fällt umso leichter, je prominenter und im veröffentlichten Urteil festgelegter er gilt.

Dieter Lattmann entzieht sich diesen Kategorien. Weder bedarf er – besonders
in einem literarisch interessierten Kreis – einer Vorstellung, noch können ein- deutige Einordnungen ihm oder seinem Wirken gerecht werden. Er selbst hat sich vor einiger Zeit im Gespräch mit mir als einen „mittleren Autor“ bezeichnet. Heute zählt er zu den bekanntesten Schriftstellern dieser Republik. Aber er verdankt die Prominenz seines Namens nicht der etwaigen Dominanz in einer literarischen Position oder Richtung, nicht einer seichten und darum populari-sierenden Breitenwirkung, nicht einer exponierten Streitführerschaft und nicht einer „Gediegenheit“ seiner Publikationen mit der Folge einer um ihn gescharten Lesergemeinde. Kurzum: Es fällt viel leichter zu beschreiben, was Lattmann nicht ist, als seine Rolle im literarischen Leben auf eine Formale zu bringen.

Wer Dieter Lattmann beurteilen will, muss sich auf ihn einlassen. Und wer
sich auf ihn einlässt, kommt nicht daran vorbei, über seine  veröffentlichte Produktion hinaus zur Person Lattmann vorzustoßen. Auch dies unterscheidet ihn von der Mehrzahl seiner Kollegen. Wer die literaturkritische Position vertritt, dass allein das Werk den Autor profiliert, wird Lattmanns Arbeiten nicht geringschätzen – und doch liegt hier der Beweis der Antithese vor: Hier ist ein Autor, dessen Werk durch die Person charakterisiert wird.

Dafür spricht nicht nur die heterogene Vielfalt seiner literarischen Metiers, sondern auch die gleichzeitige oder sich überschneidende oder aufeinander folgende Vielfalt seiner Aktionsfelder. Und wie der Autor nur aus der Vielfalt seiner Produktion, so ist die Person Lattmann aus der Bereitschaft zur Vielfalt
im Engagement zu erfahren. Er war Verlagsbuchhändler, Kritiker, Publizist, Romancier, Essayist, Reiseautor, Herausgeber, Leitartikler, Verbandssprecher und schließlich aktiver Politiker. Und alle diese Aktivitäten haben einander bedingt, ausgelöst, befruchtet und jeweils aufs Neue ermöglicht. In seinen Romanen ist der Erfahrungshintergrund der Berufspraxis nicht nur spürbar, sondern präzise dargestellt. Seine politische Arbeit ist in vielen Teilen Dienst
am Berufsstand der Autoren gewesen. Viele seiner Einzelveröffentlichungen
im letzten Jahrzehnt wiederum waren Stellungnahmen eines Politikers.

Wer hingegen glaubt, daraus ableiten zu sollen, dass Dieter Lattmann ein in vielen Sätteln gerechter Virtuose der Formen und Medien sei, geht wieder fehl. Denn in allen Veröffentlichungen, wann wo, wie sie erschienen sind und welcher Thematik oder Zielsetzung sie gewidmet waren, treten uns leicht erkennbar derselbe Mann, dieselbe Haltung, dieselbe Identität entgegen.

Es ist eine Identität, die durch vier „große E“ charakterisiert werden kann:
Ethos, Engagement, Eigenständigkeit, Einfühlung. Sein Ethos ist es, der jede seiner Handlungen und Äußerungen mit einem unbeschädigbaren Gerüst von Menschlichkeit ausstattet., das selbst in schärfster Konfrontation nie verloren geht. Sein Engagement ist es, das ihn davor bewahrt hat, in einer abgehobenen oder zurückgezogenen Distanz des Nur-Schreibers zu verharren. Seine Eigen-ständigkeit ist es, die ihn bei aller Selbstverpflichtung zur Sache, Organisation oder Programmatik nie zum nur-dienenden oder nur-agierenden Funktions-träger werden ließ. Seine Einfühlung in Zusammenhänge, Strukturen und Motivationen hat ihm durch alle Wechselfälle seines persönlichen Wegs hin- durch alle Gelassenheit eines aus Erkenntnis Handelnden und aus Handlungs-erfahrung Schreibenden bewahrt.

Diese mentale Statur mag oberflächlicher Betrachtung als nur sympathisch,
nur liberal erscheinen. Doch wer dieser Verführung unterliegt, hat sich eben noch nicht auf Dieter Lattmann eingelassen. Denn seine geistige Persönlichkeit ist auf klare Positionen gebaut. Es sind die Positionen eines Radikaldemokraten mit sozialem Impuls und der Einsicht in die Notwendigkeit der organisierten Interessenvertretung. Und dies unabhängig davon, ob es um die Vertretung
der Belange seines Berufsstands oder der unterprivilegierten Schichten oder
der bürgerlichen Freiheiten geht.

Folgerichtig ist Lattmann, der Literat mit Arbeitswelt-Erfahrung, engagierter Gewerkschafter und Sozialdemokrat. Und es steht ganz in der Logik der beschriebenen Vielfalt, mit der er sich selbst einzubringen gewohnt ist, dass Lattmann ein polemischer Schreiber und wirksamer Agitator sein kann, dass er die freie Rede so gut beherrscht wie die am Journalismus geschulte Schreibe, dass er in gleicher Weise unmittelbar wirksame Impulse zu geben weiß, wie er mit zäher Geduld dicke Bretter zu bohren vermag.

Wenn es eine Entwicklung in Lattmanns literarischem Schaffen gibt, dann ist
sie durch die stetig wachsende Vielfalt seiner Erfahrungen bestimmt – der Erfahrungen seiner Person wie der Reflektion auf Erfahrungen anderer. Darum musste aus dem Belletristen der Essayist und aus dem Essayisten der Sachbuch-autor, aus dem Bildungsbürger der Interessenvertreter, aus diesem der Politiker werden. Und darum werden seine beiden jüngsten großen Arbeiten vor allem
als politische Sachbücher verstanden – obwohl sie hinreichend belletristische Elemente und philosophische Aspekte integrieren.

Doch auch hier führt Kategorisierung in die Irre. In beiden Bänden – "Die Einsamkeit des Politikers“ und „Die lieblose Republik“ – findet sich breite Vielfalt wieder, die aus des Schreibenden Person und Erfahrungen kommt.
Es sind Beobachtungen, Betrachtungen, Analysen, Erkenntnisse, Meinungen, Skizzen, Überlegungen – aber keineswegs Sammlungen von Momentaufnahmen, wie in der Wochenzeitung DIE ZEIT zu lesen war. Und schon gar nicht Frustra-tionen eines Lobbyisten, wie uns die Frankfurter Allgemeine glauben machen will, Es sind die subjektiv erlebten (und oft genug erlittenen), engagiert bewäl-tigten und zur Perspektive für praktisches Handeln verdichteten Folgerungen jemandes, der sich nicht hat anpassen lassen. Und der dadurch ein Beispiel setzt.

Dieses Beispiel kann und sollte wiederum Vielfalt begründen. Vielfalt der Wirkung, vor allem auf jene Leser, die selbst in der politischen Praxis stehen (oder in diese einzutreten erwägen) – in Verbänden, Gewerkschaften, Parteien, als Funktionäre und Mandatsträger, als denkende, handelnde oder gar schreibende Zeitgenossen. Ihnen wird vorgeführt, dass es möglich bleibt, sich der Notwendigkeit des Handelns in organisierten und institutionalisierten Abläufen zu beugen und trotzdem Identität zu bewahren, ja sie möglicherweise erst dadurch zu gewinnen.

Carl-Christian Kaiser hat in seiner Rezension der „Lieblosen Republik“ die Toleranz des Autors und Berichterstatters Dieter Lattmann hervorgehoben. Mir scheint, er irrt. Lattmann ist nicht tolerant. Er ist schlicht glaubwürdig. Und er hat seine Glaubwürdigkeit bei vielen Anlässen unter Beweis gestellt: durch die Überführung seines politischen Engagements in ein politisches Mandat, durch den Kampf mit sich selbst gegen die Anpassungszwänge des Bonner Parlamen-
tarismus, durch den Entschluss, nach zwei Legislaturperioden aus dem Polit-betrieb zu retirieren – und vor allem durch die Form, wie er sein Engagement weiterführt: Als Autor, der politisch handelt. Als politisch Aktiver, der seine Aktivität schreibend reflektiert. Als einer, der in der Solidarität seiner Organisation steht und der dabei doch ein Unabhängiger bleibt.

Dies unterscheidet ihn von den meisten Kollegen in der Politik. Und allein deshalb ist sein Bericht aus Bonn lesenswert, auch wenn er keine anderen Qualitäten hätte. Dass er sie hat – und zwar in der für Lattmann typischen Vielfältigkeit hat – davon wird Ihnen die heutige Lesung einen Eindruck
geben.


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dokumentiert im Deutschen Literaturarchiv Marbach

 

 

 

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© Klaus Ulrich Spiegel