Gioachino Rossini (1792 ‑ 1868)

Stabat Mater

 

pour quatre voix et choeur
avec accompagnement d’orchestre

Hamburg / Musikhalle
r. live 1959

Leitung: Ferenc Fricsay

Maria Stader
Soprano

Marianna Radev
Mezzo soprano

Ernst Haefliger
Tenore

Gottlob Frick
Basso

 

Chor des Norddeutschen Rundfunks
NDR Sinfonieorchester Hamburg

 


 

Stabat Mater

 

Aktueller liturgischer Text
Graduale Romanum 1973/79

 

Stabat mater dolorosa
Iuxta crucem lacrimosa,
Dum pendebat filius.
Cuius animam gementem,
Contristatam et dolentem
Pertransivit gladius.
Sancta mater, istud agas,
Crucifixi fige plagas
Cordi meo valide.
Tui nati vulnerati
Tam dignati pro me pati,
Poenas mecum divide!

O quam tristis et afflicta
Fuit illa benedicta
Mater unigeniti!
Quae maerebat et dolebat,
Pia Mater, dum videbat
Nati poenas inclyti.

Fac me vere tecum flere,
Crucifixo condolere,
Donec ego vixero.
Iuxta crucem tecum stare
Ac me tibi sociare
In planctu desidero.

Quis est homo qui non fleret,
Matrem Christi si videret
In tanto supplicio?
Quis non posset contristari,
Piam matrem contemplari
Dolentem cum Filio?

Virgo virginum praeclara,
Mihi iam non sis amara:
Fac me tecum plangere.
Fac ut portem Christi mortem,
Passionis fac consortem,
Et plagas recolere.

Pro peccatis suae gentis
Vidit Iesum in tormentis
Et flagellis subditum.
Vidit suum dulcem natum
Morientem desolatum,
Dum emisit spiritum.

Fac me plagis vulnerari,
Cruce hac inebriari
Et cruore Filii,
Flammis urar ne succensus,
Per te Virgo, sim defensus
In die iudicii.

Eja mater, fons amoris,
Me sentire vim doloris
Fac, ut tecum lugeam.
Fac, ut ardeat cor meum
In amando Christum Deum,
Ut sibi complaceam.


Fac me cruce custodiri,
Morte Christi praemuniri,
Confoveri gratia.
Quando corpus morietur,
Fac ut animae donetur
Paradisi gloria. Amen.

 


 

Zwischen religiöser Inbrunst und Opernbelcanto

 

Das Stabat Mater, Textgrundlage einer Fülle von oratorischen Kirchenkompositionen aus der Feder bedeutender Meister, geht auf ein mittelalterliches Gedicht zurück. Seinen Titel bezieht es von den ersten Versworten: Stabat mater dolorosa (lateinisch für: Es stand die Mutter schmerzerfüllt). Mit ihm wird die Gottesmutter in ihrem Schmerz um den Gekreuzigten besungen.

 

Die Urheberschaft an diesem Text ist unbekannt. Er wurde unter anderen Papst Innozenz III (1160 – 1219), Giovanni Bonaventura (1221 – 1274) und für die heute gebräuchliche Fassung Iacopone da Todi (ca. 1235 – 1306) zugeschrieben. 1521 wurden die Verse ins Missale Romanum aufgenommen, später aber vom Konzil von Trient wieder aus der Gottesdienstmusik gestrichen. 1727 gelangte das Stück als Sequenz wieder in den Messetext, bald auch als Hymnus ins Brevier der Römischen Kirche. Seitdem gehört es wieder zur katholischen Liturgie. Zunächst beim Fest Septem Dolorum Beatae Mariae Virginis nach Palmsonntag verwendet, wurde es bei der Liturgiereform vom 2. Vati­kanischen Konzil auf den 15. September, den Tag Gedächtnis der Schmerzen Mariä verlegt. Dort wird es bis heute gebetet oder gesungen.

 

Der Operngott als Kirchenmusiker

Es gibt über 50 Vertonungen aus über 500 Jahren — darunter Werke von berühmtesten Meistern wie di Lasso, Palestrina, Charpentier, beide Scarlatti, Vivaldi, Caldara, Pergolesi, J. S. Bach, Haydn, Boccherini, Schubert, Verdi, Cornelius, Liszt, Dvorák, Szymanowski, Poulenc, Kodaly, Martin bis zu Górecki, Pärt und Rihm.

 

Gioachino Rossini, bei Lebzeiten einer der berühmtesten und gefeiertesten Komponisten Europas, hatte nach einem fünfmonatigen triumphalen (und fürstlich honorierten) Aufenthalt in London 1824 den Posten des Leiters des Théâtre Italien in Paris angenommen. Zwei Jahre später wurde er königlicher Hofkomponist und Generalinspekteur für Gesangsdarbietungen in Frankreich. 1829 schrieb Rossini mit der Grand-Opéra Guillaume Tell sein letztes musikdramatische Bühnenwerk. Insgesamt hatte er in zwei Jahrzehnten 39 Opern verfasst. In dieser Zeit begründete er seinen Ruf als Meister des romantischen Dramma lirico, der Tragedia lirica und der Opera Buffa. Da der französische König in der Juli-Revolution 1830 abdanken musste, verlor Rossini seine öffentlichen Ämter. Es gelang ihm jedoch, eine lebenslange Rente zu erwerben.

 

Von 1836 bis 1848 wirkte Rossini als Direktor des Liceo Musicale in Bologna. Er war weiterhin auch als Komponist tätig, widmete sich aber nun der Kammer- und Klaviermusik, schuf konzertante Werke für brillante Instrumentalisten, interessierte sich in gesteigertem Maße für chorische und oratorische Geistliche Musik. 1846 heiratete er seine zweite Frau, die Französin Olympe Pélissier. Wegen politischer Wirren in der Emilia Romagna wich der Komponist 1848 nach Florenz aus. 1855 zog er erneut nach Passy bei Paris. Dort lebte er für den Rest seines Lebens.

 

Zu den bekannten Werken nach seiner Zeit als Opernkomponist zählen zwei geistliche Werke, die den Opernmeister des Belcanto nicht verleugnen: das Stabat Mater (1841) und die Petite Messe solennelle (1863). Rossini litt insbesondere in seiner zweiten Lebenshälfte an Depressionen. Seine Kreativität und Kraft ließen nach, doch er schuf bis an sein Lebensende meisterliche Miniaturen wie auch große Kirchenmusik — so die Klavierstücke Péchés de vieillesse und Chorwerke wie O salutaris hostia oder Laus Deo. Der Großmeister des Melos starb an den Folgen einer Darmoperation. Er wurde zunächst auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise beigesetzt. 1887 überführte man seine Gebeine in die Kirche Santa Croce in Florenz.

 

Triumph mit Opern-Weltstars

Rossini hatte schon 1832 sechs Teile des späteren Stabat Mater für den spanischen Prälaten Varela geschrieben, der sich die Noten schenken ließ, doch die Folgestücke bei dem Komponisten Tadolini in Auftrag gab, da ihm Rossini nicht schnell genug zu arbeiten schien. Er wollte das so entstandene Chorwerk eilig aufführen lassen, um Geld und Erfolg zu kassieren. Rossini erfuhr rechtzeitig davon, setzte sein im Opernbetrieb Italiens geübtes Können als bei Bedarf blitzschneller Tonschreiber ein — und brachte das Gesamt-Opus aus seiner Feder am 7. Januar 1842 im Théâtre Italien zur Uraufführung, in Gegenwart der gesamten Pariser Kulturszene mit einem Sängerquartett, das damalige Weltspitze darstellte: Giulia Grisi, Emma Albertazzi, Giovanni Mario, Antonio Tamburini. Die Resonanz steigerte sich zum Triumph. Heinrich Heine, Ohrenzeuge und Rezensent, schrieb vom Ereignis der Saison. Juristische Auseinandersetzungen um Urheberschaft und Aufführungsrechte zogen sich eine Weile hin — doch die Popularität des Werks setzte Rossini als das unumstrittene Genie in sein Recht.

 

Die kirchlichen Instanzen zeigten sich ablehnend, doch die Musikfreunde allerorten bejubelten das religiöse Werk wie eine neue Rossini-Oper. Rossini liebte den als Autor geltenden Dichter Jacopone da Todi. Er empfand es als eine Passion, dem bewunderten Text seine Musik beizufügen, doch blieb er selbst weiter in Bewunderung vor Pergolesis Vertonung, die er stets über die seine stellte. Er griff dessen Thema Quis est homo für den Einführungschor seiner Komposition auf und rahmte diesen ein mit einem eigenen Cantus planus. Im übrigen verwendet er die wohlbekannten Rossini-typischen Mittel der Melodik und Instrumentation, die seinen Ruhm begründet hatten. Er weist den Sängern geradezu ariose Soloaufgaben zu, Ohrwürmer beinahe, die ihre Eignung für Bravournummern im Konzert und auf Tonträgern vielfach bewiesen haben: Cujus animam, Pro peccatis, Fac ut portem, Inflammatus et accensus.

 

Kontroversen darüber, ob Rossinis Opus nun wirklich als ein religiöses oder nicht doch eher als ein theatralisches Stück eingestuft werden sollte, haben sich längst erledigt — ähnlich der von gleicher Kritik betroffenen Messa da Requiem Giuseppe Verdis. Beide Werke gehören zum Bestand brillanter Chormusik des 19. Jahr­hunderts — oft gespielt und vielgeliebt: Meisterwerke aus eigener überkategorialer Kraft, Fülle, Herrlichkeit.

 

Unser Live-Mitschnitt einer Aufführung des Chorwerks 1959 in der Hamburger Musikhalle bringt neben den namhaften Hamburger Rundfunk-Klangkörpern dasselbe Sängertrio Sopran-Mezzo-Tenor auf, das der legendäre, früh verstorbene Dirigent Ferenc Fricsay auch bei seiner Studioaufnahme für DG eingesetzt hatte. Ihren Repertoirewert bezieht die Veröffentlichung durch die Mitwirkung des bedeutenden deutschen Bassisten Gottlob Frick, dessen unverwechselbare samtig-sonore Schwarzbassfarbe der Interpretation eine eigene Prägung verleiht. Es ist das einzige Tondokument dieses großen Sängers in der Basspartie von Rossinis Stabat Mater.

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Ein Live-Fund mit Repertoirewert

Das tönende Erbe des großen Dirigenten Ferenc Fricsay kann als konstitutierend für den Aufbau eines Grundbestands an Aufnahmen klassischer Musik auf einem rein deutschen Industrie-Label in der Nachkriegsära gelten, zugleich als Basis für die Repertoirebildung der seit Beginn der 1950er Jahre bahnbrechenden Vinyl-Schallplatte. Fricsay entfaltete diese Ressourcen bei der Deutschen Grammophon in einem raschen dynamischen Schaffensprozess, der bei seinem frühen Tod noch nicht abgeschlossen war. Er setzte etwa Bartók im deutschen Sprachraum erst durch. Seine LP mit Rossini-Ouvertüren war ein Verkaufsschlager. Fricsay galt als maßstabsetzender Dirigent für Mozart, die Klassiker wie die Moderne. Dabei beschäftigte er konsequent einen ihm vertrauten Kreis ständiger Partner: Sängersolisten wie Streich, Stader, Seefried, Töpper, Haefliger, Fischer-Dieskau, Greindl, den Pianisten Geza Anda, die Geiger Tibor Varga und Wolfgang Schneiderhahn, das Sinfonieorchester des RIAS (heute Deutsches Sinfonieorchester Berlin). Die Mitwirkung des großen Bassisten Gottlob Frick im Kreise vertrauter Fricsay-Favoriten bildet den Sonderreiz unseres Live-Mitschnitts.

 

Ferenc Fricsay (∗ 1914 – † 1963) war einer der wichtigsten Dirigenten der Ära nach dem 2. Weltkrieg, sowohl für die internationale Konzert- und Opernszene als auch für die Rundfunkarbeit und die Schallplatte. Er zählt zu den Pionieren der Musik-Archivierung auf Tonträgern in der Übergangsphase zum Vinyl-Zeitalter. Sein Vater, ein in Ungarn bekannter Militärkapellmeister, hatte ihm ersten Musikunterricht erteilt. Als Sechsjähriger trat er in die Ferenc-Liszt-Akademie in Budapest ein, studierte fast alle Orchesterinstrumente, war Schüler von Béla Bartók (Klavier) und Zoltán Kodály (Komposition). Als Fünfzehnjähriger sprang er für seinen Vater am Dirigentenpult ein und avancierte daraufhin seinerseits kurzzeitig zum Militärkapellmeister. 1934 bis 1944 leitete er das Opern- und Sinfonie-Orchester von Szeged. 1939 debütierte er als Operndirigent an der Budapester Oper. 1945 wurde er zu dessen Musikdirektor ernannt. Von Otto Klemperer, in den 1940ern ständiger Gast am Budapester Haus, wurde er sehr gefördert. 1947 übernahm er von ihm bei den Salzburger Festspielen die Leitung der Uraufführung von Gottfried von Einems Oper Dantons Tod nach Büchner. Der sensationelle Erfolg stufte ihn umgehend als Dirigent von internationalem Rang ein. 1948 leitete er in Salzburg die Uraufführung von Frank Martins Tristan-Oper Le Vin herbé, 1949 die von Carl Orffs Antigonae. 1948 wurde er zum Musikdirektor des RIAS-Sinfonie-Orchesters Berlin berufen. 1950 leitete er beim Edinburgh Festival Mozarts Nozze di Figaro. 1953 unternahm er seine erste USA-Tournee, leitete die berühmten Orchester von Boston und San Francisco. 1954 übernahm er auch die Chefposition beim Houston Symphony Orchestra. 1956 bis 1958 war er GMD der Bayerischen Staatsoper, leitete u. a. die Eröffnung des restaurierten Cuvilliés-Theaters. Ab 1959 war er erneut GMD beim RIAS Berlin, dann ab 1961 der Deutschen Oper Berlin. Er betreute ein nahezu unbegrenztes Repertoire, darin Werk-Uraufführungen von Boris Blacher, Gottfried von Einem, Zoltán Kodály. Seine Götter waren Mozart und Bartók. Für die Deutsche Grammophon spielte er ein nahezu komplettes Klassik-Repertoire ein. Er erlag allzu früh einem Krebsleiden. Sein Ruhm dauert bis heute fort — fundiert durch Wiederveröffentlichungen zahlreicher Tondokumente.

 

Maria Stader (∗ 1911 – † 1999), eigentlich Maria Molnár, gilt als eine der führenden Mozart-Sopranistinnen des 20. Jahr­hunderts. In Ungarn geboren, gelangte sie durch die Kinderhilfe der Heilsarmee als Flüchtlingskind zu Pflegeeltern in die Schweiz und kam durch Adoption zu ihrem späteren Namen. Sie erhielt Gesangsunterricht in St. Gallen und Zürich, vervollkommnete sich als Meisterschülerin bei Therese Behr-Schnabel-Behr und ab 1938 bei der legendären Giannina Arangi Lombardi in Milano, die ihr die Grundlagen der Belcanto-Schule vermittelte. 1940 debütierte sie in Zürich als Olympia in Les Contes d’Hoffmannn und wurde bald für ihre edle, perfekt geführte Lirica-Stimme gerühmt. Ihre kleine, extrem zierliche Erscheinung (sie maß nur 1,44 m) ließ sie auf eine Bühnenkarriere verzichten und die Laufbahn einer Konzertsängerin einschlagen. Auf der Bühne erschien sie vor allem als Königin der Nacht in der Zauberflöte, so an der Wiener Staatsoper, am Opernhaus Zürich und am Covent Garden London. Im Konzertsaal erreichte sie Weltruhm, als Oratorien- wie als Liedsängerin. 1956 sang sie in 22 konzertanten Aufführungen in Israel die Titelpartie in Lucia di Lammermoor. Sie gastierte in den Konzertreihen und bei den Festivals der internationalen Klassikwelt, so in Salzburg, Luzern, Aspen, Prades, in allen Musikzentren der Welt unter den bedeutenden Dirigenten ihrer Zeit. 1969 zog sie sich aus dem Musikbetrieb zurück, verfasste schöne Memoiren (Nehmt meinen Dank) und leitete vielgefragte Gesangs-Meisterklassen. Der Dirigent Ferenc Fricsay liebte sie sehr und setzte sie in nahezu allen seinen Studioproduktionen von Oper und Oratorien ein, in lyrischen Partien wie Contessa und Konstanze, doch auch für jugendlich-dramatische Aufgaben wie Donna Elvira oder Verdis Requiem. Sie war auch eine säkulare Bach-Interpretin, dokumentiert in zahlreichen Einspielungen mit Karl Richter. Ihre klingende Hinterlassenschaft gehört zum Schönsten, was die Tonträgerindustrie bewahrt hat.

 

Marianna Radev (∗ 1911 – † 1973) stammte aus Kroatien, wurde an der Musikakademie Zagreb, dann in Milano bei dem legendären Starbariton Riccardo Stracciari ausgebildet. Sie debütierte 1936 in Triest als Marina im Boris Godunov, sang jahrelang an italienischen Opernhäusern, vor allem in Rom und Venedig. Seit 1940 war sie Mitglied der Oper von Zagreb, mit der sie auch Europa-Tourneen absolvierte. 1952 kam sie an die Mailänder Scala. Von dann an war sie als freie Sängerin mit universellem Rollenrepertoire in ganz Europa tätig, so an den Staatsopern Wien, München, Stuttgart, Berlin, Dresden, bald auch am Covent Garden London, in Paris, Moskau, Frankfurt, Zürich, schließlich am Colón Buenos Aires und immer wieder an den führenden Häusern Italiens. Ihre Partien reichten von Cavalli und Monteverdi über Wagner und Verdi bis zu Orff und Menotti. Sie war auch eine vielgefragte Konzert- und Oratoriensängerin. Als solche wurde sie von Ferenc Fricsay geschätzt und bei DG für Aufnahmen verpflichtet — neben Rossinis Stabat Mater etwa für Beethovens Missa solemnis und Verdis Requiem. Sie erscheint außerdem in russisch-slawischen Opernpartien bei Philips, HM und Melodram.

 

Ernst Haefliger (∗ 1919 – † 2007), ebenfalls Schweizer, war als universeller Interpret universellen Repertoires eine der interessantesten Erscheinungen der Nachkriegs-Musikszene. Seine Wirkung umfasst die ganze zweite Hälfte des Jahrhunderts. Seine interpretative Spannweite reichte von den Bachpassionen über die Wiener Klassik, Romantik und Spätromantik bis weit in die Moderne, zu Bartók, Orff, Hindemith bis Reimann. Er studierte Musikpädagogik, nahm aber bei Julius Patzak in Wien, dann auch bei Fernando Capri in Prag (zwei gänzlich verschiedenen Tenorberühmtheiten) Gesangsunterricht. Er debütierte als Evangelist in Bachs Johannes-Passion, wurde sofort vom Opernhaus Zürich engagiert, wo er sich als Lirico in allen Werktypen und Stilen auszeichnete. In der Uraufführung von Carl Orffs Antigonae 1949 in Salzburg machte er in der dramatischen Charakterpartie des Tiresias eine kleine Sensation. Seitdem gehörte er zu den Sängerfavoriten Ferenc Fricsays. 1951 trat er beim Festival von Aix-en-Provence auf. Ab 1952 gehörte er zum Ensemble der Deutschen Oper Berlin. 1956 gastierte er beim Glyndebourne Festival. In Berlin nahm er die Position des Ersten Lyrischen Tenors ein, neben Helmut Krebs, Horst Wilhelm, Donald Grobe. Er sang dort die Mozart-Protagonisten, aber auch Rossinis Graf Ory und Pfitzners Palestrina. Wilhelm Furtwängler setzte ihn als Florestan im Fidelio ein, Fricsay brachte diese Interpretation auf Tonträger. Haefliger galt, neben Krebs und später Schreier, als der unumstrittene Bach-Tenor seiner Zeit, protegiert von Günter Ramin in Leipzig wie von Karl Richter in München. Er war ein bevorzugter Solist in Mahlers Lied von der Erde, widmete sich intensiv der Moderne, sang in Uraufführungen neuer Werke von Hindemith bis Henze, etabliert sich auch als führender Liedsänger neben Fischer-Dieskau. Bei DG und Schweizer Labels machte er zahlreiche Einspielungen, viele davon mit Ferenc Fricsay. Haefliger wurde zum Berliner Kammersänger ernannt, übernahm 1971 eine Professur an der Münchner Musikhochschule, verfasste das Standardwerk Die Singstimme. In den 1980er Jahren produzierte er mit völlig intakter Stimme und Künstlerschaft erneut maßstäbliche Tonaufnahmen. Als fast 80‑Jähriger feierte er als Hirt im Tristan bei der Wiedereröffnung des Münchner Prinzregententheaters noch einen großen persönlichen Triumph.

 

Gottlob Frick (∗ 1906 – † 1994) ist der deutsche Basso profondo/serioso mit den meisten Tondokumenten, darum wohl auch der am besten in Erinnerung behaltene Vertreter seines Fachs. Er gilt als Inkarnation eines schwarzen Basses, verkörpert aber vor allem den Typus des volltönenden, glockig-weich, dabei gedeckt und ein wenig nasal klingenden Deutschbassisten, war also kein Basso cantante. Seine schwäbische Herkunft klingt ein wenig in seiner Tonbildung und Artikulation mit, weshalb seine Ausstrahlung eher gesetzt und in sich ruhend als markant oder scharf wahrgenommen wird. Dennoch wurden auch seine Bühnengestalten italienischer Prägung — insbesondere Verdis Philipp II — international mit deren größten Interpreten in eine Rangreihe gestellt. In seiner Ära war Frick neben Weber, Böhme, Greindl auf den Weltbühnen wohl der meistbeschäftigte Bassist deutscher Provenienz, namentlich in Basspartien Richard Wagners. — Frick wuchs als jüngstes von 13 Kindern in einem Försterhaus auf. Schon als Jugendlicher begann er seine Ausbildung am Konservatorium Stuttgart, sang seit 1927 im Stuttgarter Staatsopernchor. 1934 debütierte er als Daland am Landestheater Coburg. Nach Engagements in Freiburg und Königsberg wurde er 1939 von Karl Böhm an die Staatsoper Dresden engagiert, wo er bis 1950 von Masetto bis Philipp II wichtige Basspartien sang. 1950 bis 1953 war er an der Städtischen Oper Berlin, dann Gast an allen großen Opernhäusern, vor allem in Hamburg, München, Wien, am Covent Garden London und der Met NYC. Ab 1957 trat er bei den Bayreuther Festspielen auf, als Pogner, Fasolt, Hunding, Hagen. Allein an der Wiener Staatsoper sang er rund 500 Vorstellungen. Frick hatte auch bedeutende Erfolge als Oratoriensänger, war populär mit Volks- und Unterhaltungsmusik. Seine tönende Hinterlassenschaft auf Schallplatten ist umfassend. Bei Lebzeiten und posthum wurden ihm so zahlreiche Ehrungen zuteil wie kaum einem anderen Sänger. Der legendäre britische Gesangspräzeptor John B. Steane (The Great Tradition) nahm ihn in sein Listing der 100 bedeutendsten Opernsänger auf.

 

KUS

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© Klaus Ulrich Spiegel