Hans Werner Henze (1926 – 2012)

Boulevard Solitude

 

Lyrisches Drama in sieben Bildern
Libretto: Grete Weil nach Abbé Prévost
Uraufführung: 17.02.1952, Hannover (Landestheater)

Radioproduktion des Hessischen Rundfunks
r. September 1953 / Frankfurt/M.

Leitung: Kurt Schröder

 

Manon Lescaut Elfride Trötschel
Armand Des Grieux Josef Traxel
Lescaut, Manons Bruder Kurt Gester
Francis, Armands Freund Rudolf Gonzsar
Lilaque le Père, ein reicher Kavalier Walter Jenkel
Lilaque le Fils, sein Sohn Georg Stern
Der Prolog Gisela Litz

Radio-Sinfonie-Orchester Frankfurt

 


 

Die Handlung

 

Ort und Zeit: Eine französische Großstadt / Gegenwart

 

Erstes Bild

 

In einer Bahnhofshalle begegnet der Student Armand Des Grieux der Manon Lescaut. Sie reist mit ihrem Bruder, der sie in ein Pensionat bringen soll. Armand verliebt sich in Manon. Beide brennen nach Paris durch — unter den Augen von Lescaut, der davon kaum Notiz nimmt.

 

 

Zweites Bild

 

Das gückliche Liebespaar lebt ärmlich in einer kleinen Mansarde. Armand, der wegen des liederlichen Lebenswandels von seinem Vater keine Zuwendungen mehr bekommt, will seinen Freund Francis um Geld bitten. Kaum ist er fortgegangen, als Manons Bruder Lescaut auftaucht. Er kann Manon dazu überreden, den reichen Lilaque le Père zu erhören.

 

 

Drittes Bild

 

Manon ist Lilaques Geliebte geworden. In ihrem eleganten Boudoir schreibt sie manchmal an Armand. Lescaut kommt und schnorrt seine Schwester an. Als diese ihm eröffnet, sie habe keinerlei Verfügung über die Mittel ihres Liebhabers, bricht er den Tresor auf. Lilaque überrascht beide und jagt sie aus dem Haus.

 

 

Viertes Bild

 

In der Universitätsbibliothek berichtet Francis seinem Freund Armand, was mit Lescaut und Manon geschehen ist. Doch plötzlich erscheint Manon und geht mit Armand davon, als sei nichts gewesen.

 

 

Fünftes Bild

 

Armand leidet an der Beziehung zu Manon. Sie ist nicht mehr wie früher. In einer Kneipe lässt sich Armand von Lescaut Kokain besorgen. Lescaut verkuppelt Manon an Lilaque le Fils, den Sohn ihres früheren Financiers. Armand erhält die Nachricht, dass Manon ihn erwarte, sobald der junge Lilaque am nächsten Morgen verreise.

 

 

Sechstes Bild

 

Armand und Manon haben sich im Schlafzimmer von Lilaque le Fils einquartiert. Als Armand ein Bild aus dem Rahmen schneidet, um es zu verkaufen, alarmiert ein Diener den Hausherrn. Lilaque le Père entdeckt die beiden und ruft die Polizei. Mit einem Revolver, den Lescaut ihr zugesteckt hatte, erschießt Manon Lilaque le Père. Armand und Lescaut fliehen. Manon wird verhaftet.

 

 

Siebentes Bild

 

An einem grauen Wintertag wird Manon mit anderen Gefangenen in ein anderes Zuchthaus verbracht. Armand kreuzt ihren Weg. Er versucht sich ihr zu nähern, sie aber nimmt von ihm keine Notiz.

 


 

Der Manon-Stoff als desillusionierendes Großstadt-Drama

 

 

Henzes Werk erzählt die Geschichte der verzweifelten Liebe zwischen dem adligen Chevalier Des Grieux und der Kurtisane Manon Lescaut im Stil einer Großstadt-Tragödie. Tableaux der Handlung sind Bahnhof, Mansarde, Bibliothek, Rauschgiftkaschemme, Wohnungen neureicher Spießer und am Schluss Außenmauern des Gefängnisses. Das Werk entstand im geistigen Umfeld des französischen Existentialismus, der radikal die Einsamkeit des in der Masse verlorenen Individuums in den Mittelpunkt der Weltbetrachtung stellte.

Geschmacklosigkeit, Erotische Trivialität, Selbstzerstörerischer Nihilismus — das war der kritische Tenor der Pressefeuilletons gegen Hans Werner Henze nach der Uraufführung von Boulevard Solitude 1952 am heutigen Staatstheater Hannover. Angesichts des Kulturgeschmacks im Nachkriegsdeutschland konnte das nicht verwundern. Denn Henzes Opernwerk ist nicht dem Ideal des gewollt Schönen und Erhabenen verpflichtet. Es präsentiert eine morbide Großstadtgesellschaft und setzte damals ganz ungewohnte Klänge dafür ein. Spätere Aufführungen beweisen: Die hitzigen Angriffe haben das Aufsehen des Werks und damit die Bekanntheit des Komponisten gesteigert, aber nichts zu deren Schaden bewirkt. Henze gilt als bedeutendster deutscher Komponist der Gegenwart. Und Boulevard Solitude ist auch 50 Jahre nach seiner Uraufführung noch ein Werk mit starker Wirkung.

 

Das Lyrische Drama manifestiert sich über sieben Bilder als faszinierende Mischform aus Gesang, Instrumentalmusik, Tanz und Pantomime. Henze greift auf traditionelle Elemente der Oper wie Arien und Duette zurück, spielt aber auch mit Einflüssen des Jazz und avantgardistischen Elementen. Ein über Perkussion einprägsamer Rhythmus umrahmt Bühnenaktion und Zwischenspiele in schillernden Farben. In der durchlaufenden Dramaturgie eines geschlossenen Aufzugs sind die einzelnen Bilder mehr Darstellungen von Situationen und Figuren als typische Handlungsabfolge.

 

Das Libretto beruht auf Abbé Prévosts berühmtem Roman Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut (1731), der auch den Textbüchern von Puccinis Manon Lescaut und Massenets Manon zugrunde liegt. Doch Henzes Autorin Grete Weil (mit Assistenz ihres Ehemannes, des bekannten Schauspielers Walter Jokisch) rückt im Gegensatz zu den Handlungen der melodisch traditionell geprägten Werke von Puccini und Massenet nicht Manon Lescaut, sondern Armand Des Grieux in den Mittelpunkt.

 

Manon (Lyrischer Sopran) ist schön und leichtsinnig. Ihr sinnlicher Einfluss auf Männer ist zuerst ein Element im Spiel um Lebens­bedingungen, reißt sie aber bald ins Verderben. Armand (Lyrischer Tenor) kann sie trotz einer tiefen Liebe nicht halten. Lescaut, der zynische Bruder (Charakterbariton), ist eine Spieler- und Kupplernatur, die aus allen und allem persönlichen Profit zu ziehen sucht. Armand ist ein einsamer Student, dem die Wissenschaft kein Lebensglück zu geben vermag. Er bändelt mit der jungen Manon an, fällt in ein Liebes­verhältnis mit ihr — und muss erleben, dass sich die Geliebte trotz beider Beziehung gut betuchten Männern zuwendet.

 

Manon liebt das Geld und lässt sich von ihrem Bruder an Freier verkuppeln. Während sie vorgibt, glücklich zu sein, versinkt Armand im Drogensumpf und muss zugleich mit ansehen, wie seine Geliebte unter dem Einfluss Lescauts einen Geldgeber erschießt. Die Affäre endet in der Katastrophe: Manon landet im Gefängnis und lässt einen zutiefst vereinsamten und desillusionierten Armand zurück.

 

Die Librettistin hat die Hauptstränge von Prévosts Klassiker in die Moderne versetzt. Aus der Postkutsche wird die Eisenbahn, aus dem Kloster die Universitätsbibliothek, aus der Spielleidenschaft das Rausch­giftlaster. Das im Original geschilderte, tragische Sterben Manons ist gestrichen. Im von Henze vertonten Textbuch geht die zur Mörderin gewordene Manon, mit Handschellen gefesselt, stumm und fremd an Des Grieux vorüber. Fremdsein, einander nicht ignorieren, als hätte es niemals einen gemeinsamen Herzschlag gegeben — das ist zeitgenauer als der noch romantische Tod der zur Dirne herabgesunkenen Manon in den Armen ihres ersten, immer noch und weiterhin geliebten Des Grieux, wie Puccini und Massenet ihn ergreifend vorgestellt haben.

Aus Weils Libretto hingegen ist alle Romantik geschwunden. Ordinäre Schauplätze, niedrige Laster sind an ihre Stelle getreten. Der Boulevard Solitude, die graue Straße der Einsamkeit, ist zur Hauptstraße der heutigen Welt geworden, auf der die Menschen aneinander vorüber­gehen, schattenhaft wie im Traum und doch klar, wach, grausam bewusst. So bezeichnet die Szenenanweisung eine Gegenwart — gültig um 1950 wie im 21. Jahrhundert, also weniger zeitgesellschaftlich umfeld­abhängig als urmenschlich-triebgesteuert. Genauso zeit-ungebunden ausweglos sind die Wege und Schicksale der Handelnden: Treuebruch, Verlorenheit, Verzweiflung.

Zentrale Themen des Werks sind also Opportunismus, Käuflichkeit, Zynismus, Einsamkeit. Doch trotz (auch musikalisch eindringlich umgesetzter) Evokation von Materialismus, Prostitution, Drogenrausch führt es den Hörer mit ästhetisch-klarem Duktus und suggestiver Zeichnung durch eine dramatisch sich zuspitzende, ausweglos-bittere Geschichte.


Hans Werner Henze (∗ 1926 Gütersloh – † 2012 Dresden) stammte aus einem Pädagogenhaus, hatte fünf Geschwister, wuchs in eher provinzieller Enge auf. Als homosexuell orientiert, antifaschistisch gesinnt und politisch links denkend, geriet er früh in Konflikt mit dem Elternhaus. In eigener Verantwortung begann er schon als 16-Jähriger mit Musikstudien, dann eine Ausbildung in Klavier und Schlagzeug. 1944 wurde er kriegsverpflichtet und geriet 1945 in kurze britische Gefangenschaft. Nach seiner Entlassung kam er als Korrepetitor ans Stadttheater Bielefeld, ging aber schon 1946 zu einem Kompositionsstudium nach Heidelberg zu Wolfgang Fortner. Die Grundkenntnisse der Zwölftonmusik brachte er sich gegen den Willen Fortners selbst bei, studierte dann weiter bei René Leibowitz in Darmstadt und Paris. Seit 1947 trat er mit eigenen Werken hervor, in denen er die 12-Ton-Technik mit neoklassizistischen Stilelementen verknüpfte — so in der 1. Sinfonie und dem 1. Violinkonzert.

Ab 1948 war Henze als Korrepetitor und Studienleiter an verschiedenen Opernhäusern tätig, wurde 1950 Ballettdirigent am Hessischen Staats­theater Wiesbaden. Als erstes Bühnenwerk kam die Oper Das Wunder­theater (nach Cervantes) heraus; ihr folgten zwei Rundfunkopern, Sinfonien, Solokonzerte, Kammermusik. Mit seiner Ein-Akt-Oper Boulevard Solitude wurde er ab 1952 weithin bekannt — und umstritten. In Opposition zum restaurativen Kulturklima der Adenauer-Ära und zur starr nach serieller Musik verlangenden Musikpublizistik in Deutschland übersiedelte Henze 1953 nach Mittel- und Süditalien. Bis zu seinem Tod lebte und arbeitete er in den Albaner Bergen. Er stand in regem Austausch mit international bedeutenden Intellektuellen wie Bachmann, Auden, Bond, Enzensberger, Walton, Menotti. Er war Gründer des Festivals von Montepulciano und der Mürztaler Musikwerkstätten. Bis in die 1990er Jahre trat er auch als Dirigent auf. Sein Schaffen blieb stets gesellschaftlichen und politischen Themenfeldern wie auch links-aufklärerischen Überzeugungen und Aktivitäten verpflichtet.

Henzes kompositorisches Schaffen hat ein Gesamtwerk von einzig­artiger Breite und Vielfalt hervorgebracht. Es umfasst praktisch alle Bereiche und Felder der Musik — Sinfonien, Konzerte, Kammer- und Klaviermusik, Kantaten, Oratorien, Melodramen, nicht zuletzt Opernwerke, durchwegs nach literarischen Vorlagen, die alle Aufsehen erregten und ins (zeitgenössische) Repertoire eingingen. Die bekanntesten neben Boulevard Solitude sind Il Re Cervo (König Hirsch) nach Gozzi, Der Prinz von Homburg nach Kleist, Die Bassariden nach Euripides, Der junge Lord nach Hauff, Elegie für junge Liebende von Auden und Kallman.

 

Grete Weil (∗ 1906 Rottach-Egern – † 1999 Grünwald b. München) entstammte einer jüdischen Münchner Anwaltsfamilie. Sie studierte in München, Berlin, Paris Germanistik. Heiratete den Dramaturgen der Münchner Kammerspiele Edgar Weil. Folgte ihrem Mann 1935 in die Emigration nach Amsterdam. Wurde nach der Besetzung der Niederlande von Nazi-Truppen verhaftet. Überlebte erst beim holländischen jüdischen Rat, dann ab 1943 im Untergrund. Ihr Mann war 1941 im KZ Mauthausen ermordet worden. 1947 kehrte sie nach Deutschland zurück, heiratete 1960 den Schau­spieler und Regisseur Walter Jokisch († 1970). Im Exil und Untergrund hatte sie zu schreiben begonnen. Starke Erfolge waren die Romane Beethovenstraat (1963) und Meine Schwester Antigone (1980). Ihre Werke kreisen um Judenverfolgung, Exil, Alterserfahrungen und Zeitgeschichtsthemen. Grete Weil war Mitglied des PEN-Zentrums für die BRD. Sie erhielt Kultur- und Literaturpreise. Zuletzt war sie als Zeitzeugin vielgefragte Vortragsrednerin und Medien-Gesprächspartnerin. Boulevard Solitude (1951) ist ihr bekanntestes dramatisches Werk.

 

Kurt Schröder (∗ 1888 Hagenow – † 1962 Frankfurt/M.), der Betreuer und musikalische Leiter der HR Rundfunkaufnahme von Boulevard Solitude, war von 1946 bis 1953 Chefdirigent beim Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks. Eine Radioproduktion des von der Kritik bekämpften, publizistisch umstrittenen Henze-Werks so kurz nach dessen Uraufführung war eine kulturpolitische Tat.

Schröder hatte neben Musik auch Germanistik und Philosophie studiert. Er begann als Dirigent und Solorepetitor in Chemnitz, wurde Leiter der Oper in Königsberg, war später Generalmusikdirektor in Coburg, Operndirektor in Münster und schließlich 1. Kapellmeister des Opernhauses Köln. In den 1930er Jahren komponierte und arrangierte er Filmmusik (Heinrich VIII., Schwarze Rosen).

Als Chefdirigent des HR-Sinfonieorchesters stand Schröder von 1947 bis 1951 in Partnerschaft mit dem namhaften Komponisten, Dirigenten, Musikwissenschaftler Winfried Zillig als Conductor in Residence. In dieser Partnerschaft entstanden wichtige Tondokumente, nicht zuletzt von Zillig-Kompositionen. Schröder selbst hat beim HR zahlreiche Opernproduktionen herausgebracht, die nach einem halben Jahrhundert wieder veröffentlicht wurden, u. a. Wagners Tannhäuser (mit Eipperle, Joesten, Treptow, Schlusnus, von Rohr) und Rheingold (mit Frantz und Sattler) oder Verdis Die sizilianische Vesper (mit Cunitz, Rosvaenge, Schlusnus, von Rohr).

 

Elfride Trötschel (∗ 1913 Dresden – † 1958 Berlin), Tochter des Orgel­bauers Albert Trötschel, war Schülerin namhafter Sänger-Pädagogen der Dresdner Musikszene, u. a. von Helene Jung und Paul Schöffler. Karl Böhm engagierte sie 1933 als Elevin an die legendäre Dresdner Semperoper, an der sie bis 1950 auftrat. Dort entwickelte sie sich von Comprimaria-Rollen über Spielopern-Partien ins lyrische und sogar jugendliche Fach. 1950/51 war sie Mitglied der Berliner Staatsoper, zugleich Gast an der Komischen Oper Berlin. Ab 1951 bis zu ihrem frühen Tod war sie Ensemblemitglied der Städtischen Oper (der heutigen Deutschen Oper) Berlin. In Dresden, wo sie 1950 zur sächsischen Kammersängerin ernannt wurde, und in Berlin war sie bald ein Publikumsliebling.

Ihr Repertoire reichte von Soubretten wie Lortzings Marie und Gretchen, Ännchen, Despina über Lyrische wie Susanna, Zerlina, Pamina, Smetanas Marie, Rusalka, Micaelea, Mimi, Nedda, Zdenka bis zu Jugendlich-Dramatischen wie Contessa, Elvira, Agathe, Tatjana, Katharina, Jenufa. Dazu trat sie in einem breiten Programm von Konzertstücken und Oratorien auf, so in Bachs Passionen, Händels und Haydns Chorwerken oder in Mahlers 4. Sinfonie. In den 1930ern und in der kurzen Zeit ihres Nachkriegswirkens gastierte sie in London, Marseille, Lissabon, Florenz, Neapel, bei den Festivals von Salzburg und Glyndebourne. Sie starb, nur 44 Jahre alt, ganz plötzlich an einem Krebsleiden. Ihre bei Sammlern hochgeschätzten Tonaufnahmen präsentieren sie vornehmlich im lyrischen Opernfach und als Konzert­sopranistin. Ihre individuell timbrierte, ausdrucksstarke Stimme hatte einen spezifischen Silberklang. Doch eigentlich war sie das, was man einen Charaktersopran nennt — schlank, doch belastbar, ein wenig körnig im Ton, mitunter von herb-süßem Ausdruck, der auch neckisch-zickige Züge annehmen konnte. Ideal also für Charakterpartien, deren sie nur wenige zu singen bekam — wie etwa Henzes Manon.

 

Josef Traxel (∗ 1916 Mainz – † 1975 Stuttgart) war neben Wolfgang Windgassen der prominente Tenor-Protagonist der Württembergischen Staatsoper Stuttgart. Er wurde international bekannt als Merkur in der Uraufführung von Richard Strauss’ Die Liebe der Danae 1952 in Salzburg, dann als Steuermann, Erik, Walter, Seemann, Stolzing, Froh in Bayreuth. EMI Schallplatten machten ihn als vielseitigen Tenorlyriker und als eine Art Alles-Sänger im deutschen, italienischen, französischen und slawischen Fach, als Oratoriensolist und Liedsänger, sogar als Spinto- und Charaktertenor, berühmt und populär. Auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn stand er in der ersten Reihe der deutschen Tenöre internationaler Geltung — besonders profiliert als Vertreter der klassischen Schule des Legato- und Fiorito-Singens. Sein mattgolden schimmerndes, in allen Lagen perfekt ausgeglichenes, nur unter Druck manchmal etwas mehlig klingendes Organ ist schon im Klang unverwechselbar, zwischen warmem Karamell und hellem Oratorienton variabel. Traxels Repertoire reichte von Bach-Evangelisten über DiGrazia-Kavaliere und Mozartpartien bis zu Spinto-Helden. Seine Tondokumente, unter ihnen Zeugnisse perfekter Gesangskunst, erleben ihre Renaissance in der Josef-Traxel-Edition des HAfG.

 

Kurt Gester (∗ 10.10.1914) war der Universalsänger im Fach des Lyrischen und Kavalierbaritons erst an der Breslauer Oper (1939 – 1945) und ab 1948 am Düsseldorfer Haus der Deutschen Oper am Rhein. Er war auch ständiger Gast am Opernhaus Frankfurt/M. Sein stimmliches Material war nicht von Tonfülle und Schönklang gekennzeichnet, aber von Substanz und Flexibilität. Er war so etwas wie ein lyrischer Ausdrucksbariton oder Bariton Matin, ideal für scharf profilierte Typen in Charakter- und Chargenrollen mit stark rhetorischer Komponente. So erschien er bestens geeignet für zeitgenössische Opernwerke. Doch er gab mit Erfolg auch Mozarts Conte Almaviva, Guglielmo, Papageno; Rossinis Figaro; Schumanns Siegfried; Verdis Luna, Posa, Ford; Wagners Wolfram und Heerrufer; Tshajkovskijs Eugen Onegin. Er erschien beim Glyndebourne Festival und den Schwetzinger Festspielen, sang in den Uraufführungen von Zilligs Troilus und Cressida, Klebes Die tödlichen Wünsche und Das Märchen von der schönen Lilie. Besonderen Erfolg hatte er mit der Titelrolle in Busonis Arlecchino, der bei EMI auf Platten herauskam. Zahlreiche Radio­produktionen beim WDR und HR halten Gesters Gesang fest, einige wurden veröffentlicht.

 

Rudolf Gonzsar (∗ 1907 – † 1971) war zunächst unter seinem Geburts­namen Gonzsarewski Geiger und Unterhaltungssänger, bis er 1930 von Carl Ebert im Berliner Zigeunerkeller entdeckt wurde. Er kam sofort ans Deutsche Opernhaus Berlin (die heutige DOB). Dort wirkte er in der Uraufführung von Kurt Weills Die Bürgschaft mit. Ab 1934 gehörte Gonzsar auch zum Ensemble des Stadttheaters Königsberg. Ab 1935 bis 1969 dominierte er dann neben Jean Stern als führender Charakter- und Heldenbariton des Opernhauses Frankfurt/M. Als Gast war Gonzsar an den Staatsopern Wien und Berlin verpflichtet. Er war 1943 der König in der Uraufführung von Orffs Die Kluge und 1947 der Titelheld in der deutschen Premiere von Hindemiths Mathis der Maler. In Frankfurt und Berlin war er jahrelang ein gefeierter Hans Sachs in Wagners Meistersingern. In dieser Partie ist er auch auf Tonträger erhalten.

KUS

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© Klaus Ulrich Spiegel