„Nun rüste dich, Held!“
Tenorstar im Goldenen Zeitalter: Richard Schubert

Um Maßstäbe zur Einschätzung des so faszinierenden Sänger-Sondertypus für dramatisch-heroischen Bühnengesang zu bewahren, sollte man sich stets klarmachen: Das Sängerstimmen-Reservoir mit der größten Breite und Vielfalt an zur Nachprüfung geeigneten Tonbeispielen findet sich in der Frühphase der Tontechnik – also der Ära der akustischen Tonaufzeichnung im ersten Viertel des
20. Jahrhunderts. Diese Fülle entstand, als die Aufnahme-Ergebnisse noch weithin eher akustische Annäherungen als gültige Dokumentationen waren, die Tonträger kostspielig, unhandlich, bruchgefährdet, ihre Handhabung umständlich, ihre Sicherung aus noch schmalem Fundus aufwendig – und noch kaum Voraussetzun- gen für ein Weltarchiv an Tonaufnahmen bestanden. Dennoch hat uns diese Zeit
des Aufbruchs und der Mängel eine frappierende Hinterlassenschaft an Tondo-
kumenten und damit Informationsquellen beschert. Bei aller Begrenztheit von Klangqualität und Repro-Genauigkeit: Wir verfügen über ausreichend viele Hörbelege für ein „Goldenes Zeitalter der Wagnerinterpretation“, ausgewiesen in Recordings von ca. 1904 bis Ende der 1920er Jahre. Das gilt vor allem für die attraktive Stimmlage „Helden“-Tenor, in den Versionen Drammatico und Eroico.


Beim Vergleich mit den Umständen seit den 1960/70ern bis heute erinnert man
gern an ein berühmtes Verdikt des bedeutenden Wagnerdirigenten Joseph Keilberth, wonach im weltweit einzigartig flächendeckenden deutschen Opernbetrieb „früher jedes Stadttheater den Tristan aus eigenem Ensemble doppelt besetzen konnte“, während „heute der ganze Betrieb zusammenbricht, wenn Windgassen mal absagt“.  Selbst wenn man die nicht gerade schmale Phalanx der Wagner-Tenorhelden aus dem ersten Jahrhundertdrittel – eingegrenzt auf das Prädikat „Weltrang“ und keineswegs vollständig repräsentiert etwa durch die Namen Slezak, Burrian, Knote, Urlus, Viñas, Borgatti, Melchior, Althouse, Lorenz – übergeht und sich der von Sammlern gern so genannten „zweiten Reihe“ zuwendet, erscheint das damalige Angebot an Wagner-(Helden)-Tenören in greifbaren Tonaufnahmen im Abgleich zu heutigen Ressourcen schier grenzenlos.


Nicht als Umgriff, sondern als nur schmale Auswahl von Nachfolgern der noch
aus dem 19. Jahrhundert stammenden Bayreuther Heroen, seien genannt: William Miller (hochgefeierter Star, der erstaunlicherweise keine Tonaufnahmen hinterließ) oder der universale Gesangskunst-König Hermann Jadlowker (auch Wagner-Sänger) – sodann Adolf Walnöfer, Walter Kirchhoff (ein preußischer Offizier, der Gesang studierte, nur um die Wagner-Tenorpartien singen zu können), Adolf Löltgen, Erik Enderlein, Rudolf Berger, Karl Wenkhaus, Johannes Sembach (der erste Aegysth in Strauss‘ Elektra) Carl Aagard Oestvig (der erste Kaiser in ‚Strauss‘ Frau ohne Schatten), Curt Taucher (der erste Menelas in Strauss‘ Helena), Fritz Soot (der erste Tambourmajor in Bergs Wozzeck), Fritz Vogelstrom, Carl Clewing, Alexander Kirchner, Josef Kalenberg, Gotthelf Pistor, Modest Menzinsky, Otto Wolf, Gunnar Graarud, Carl Martin Oehman, Rudolf Ritter, Zsygmond Pilinsky, Fritz Wolff, Hans Kraayvanger, Fritz Windgassen, Carl Hartmann, Julius Pölzer, Eyvind Laholm –
und mehr als nur einige mehr.


In solchem Kreis erreichte der Tenor, dem diese Edition gewidmet ist, eine besonders glänzende, mit Star-Attraktivität und medialer Resonanz gekrönte Position, von der Schallplatte zwar skandalös schmal dokumentiert, doch noch
im Nachruhm populär, wenn nicht gar verklärt: der in ganz Europa, Nord- und Südamerika gefeierte RICHARD SCHUBERT. Über die Kategorie „Wagner-Interpret“ hinaus gehörte er zum Olymp der Bühnenstars seiner Zeit. Zwischen
den Timbreprofilen von Spinto und Eroico war er glückhaft einzuordnen – und
auch deshalb einem Ideal seines Stimmfachs nahe.


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Richard Schubert (Tenor) - * 15.12.1885 Dessau / † 12.10.1959 Oberstaufen

Zu seinem 70. Geburtstag gedachte das Hamburger Abendblatt seiner als
eines hanseatischen Lokalhelden: „Als Carl Günther seine ersten Rollen in der Dammtorstraße sang, stand Schubert bereits als ‚Königlicher Sänger‘ auf den Brettern der Wiesbadener Hofbühne, neben Michael Bohnen und Eduard Liechtenstein ... 1917 holte ihn Direktor Hans Loewenfeld an das Hamburger Stadttheater. Dann war er jahrelang einer der leuchtendsten Sterne am Sängerhimmel des Opernhauses. Hier und in der Wiener Staatsoper, an die ihn Richard Strauss für jeweils mehrere Monate einer Reihe von Spielzeiten verpflichtet hatte, lagen die Jahre des künstlerischen Zenits dieses großen Wagnersängers und Wagnerdarstellers. Jahre, die neben dem Hamburg-Wiener Doppelengagement noch ausgefüllt waren mit vielen Gastspielen bei Wagner-Auffüh-rungen an fast allen bedeutenden europäischen Theatern und bei Tourneen auf dem nord- und südamerikanischen Kontinent …. Schubert, vorwiegend Heldentenor, war kein absoluter Schönsänger und auch kein Stimmprotz. Wichtiger als eine Serie hoher und höchster Töne war es ihm, den geistig-musikalischen Gehalt seiner Partien zu wirkungsvollstem Ausdruck zu bringen. Sein Tristan vor allem ist manchem Nachwuchssänger zum Vorbild geworden …“


In der Tat: Richard Schubert war ein Schwarm zweier Generationen, die den Nachgeborenen mit Emphase erzählen konnten. Wie mancher seiner im dramatischen Tenorfach erfolgreichen Kollegen hatte er als Bariton begonnen. Sein erster Lehrer war der international berühmte Bassbariton Rudolf von Milde. Sein Bühnendebüt hatte er am Opernhaus Strasbourg. Trotz Erfolgen befand er sich als „noch nicht vollendet“, unterbrach die junge Laufbahn, ging zu seinem Lehrer zurück, vollzog dann bei Hans Nietan, dem nicht minder prominenten Tenore lirico der Dresdner und Leipziger Oper,  eine Umschulung zum Tenor, schloss noch einen Corso magistrale bei dem Maestro di canto Vittorio Vanzo in Milano an.

Schuberts Debüt als Tenor fand 1910 am Opernhaus Nürnberg statt. Nach drei Spielzeiten mit universellem Repertoire und Rollen vom Buffo bis zum Spinto wechselte er 1913 ans Hoftheater Wiesbaden, wo er in vier Jahren zum „Ersten Fachvertreter“ heranreifte – von Beginn an gleich so erfolg- und resonanzreich, dass ihn 1916 die Metropolitan Opera New York mit einem Fünfjahresvertrag zu binden suchte, ein Unterfangen, das mit dem Eintritt der USA in den Weltkrieg erst einmal scheiterte. 1917 ging der Sänger dann an das Stadttheater Hamburg (die heutige Hamburgische Staatsoper), nach der Direktion von Gustav Mahler mit Uraufführungen und Prominenz-Gastspielen ein erstes Haus im Kaiserreich und Hochburg der Werkpflege von Wagner und Richard Strauss.

Hanseatischer Primo Uomo
Richard Schubert begann dort als Erster dramatischer Tenor und blieb bis 1928 im festen Vertrag, trat auch danach bis 1935 weiter als gefeierter Gast auf. In Hamburg fand er seine Wahlheimat. Hier erlebte er seine ersten Triumphe. Hier war er Protagonist, als 1920 die Serie seiner Studioaufnahmen gemacht wurde. Am Haus in der Dammtorstraße sang er in den Uraufführungen von Meister Grobian von Adolf Winternitz (1918) und Die tote Stadt von Erich Wolfgang Korngold (1920). Nach dieser spektakulären Weltpremiere stand der Name des Tenors in den Besprechungen der Weltpresse, wurde zur Berühmtheit auch des Boulevards. Richard Strauss, der nach Franz Schalk damals die Wiener Staats- oper leitete und einen zentralen Nachfolger für den legendären Hermann Winkelmann (1882 Titelrollenträger in der Bayreuther Uraufführung des Parsifal) suchte, verpflichtete ihn an das berühmte Haus am Wiener Ring. Dort blieb er
bis 1929 im festen Engagement, kam aber als ständiger Gast immer wieder, zuletzt am 15.2.1937 als Eisenstein in der Fledermaus.


In Wien war Schubert bald so beliebt und gefeiert wie in Hamburg, obwohl
dort die Zahl der Prominenz im gleichen Fach – mit Piccaver, Kirchner, Krauss, Grosavescu, Kalenberg, Völker, Lorenz, Patzak, Rosvaenge – ungleich größer war. Er präsentierte dort nicht weniger als kaum glaubliche 40 Hauptpartien. Darunter von Wagner: Rienzi, Erik, Tannhäuser, Lohengrin, Tristan, Stolzing, Loge, Siegmund, die Siegfriede, Parsifal. Von R. Strauss: Herodes, Aegysth, Bachus, Kaiser, Menelas. Weiter Glucks Achill. Webers Max. Beethovens Florestan.
Bellinis Pollione. Aubers Fra Diavolo. Verdis Alfredo, Manrico, Radames, Othello. Gounods Faust. Bizets Don José. Saint-Saëns‘ Samson. Puccinis Rodolfo. Leoncavallos Canio. Mussorgskijs Grigorij. d’Alberts Pedro. Schillings‘ Giovanni/Laienbruder (in Mona Lisa). Pfitzners Siegnot (in Die Rose vom Liebesgarten). Korngolds Paul (in Die tote Stadt) und Alfonso (in Violanta).

Heldendarsteller mit Breitenrepertoire
Doch das war die Basis. Schubert war in den 1920ern ein internationaler Star.
Er absolvierte – durchwegs triumphale – Gastspiele, so in Prag, Budapest, Rotterdam, Zürich, Basel, München, Dresden, Berlin, Barcelona, Palma, Buenos Aires, Chicago. Sein Repertoire war weitgespannt, darin dem großen Vorgänger und Zeitgenossen Jacques Urlus ähnlich: Er sang auch Mozarts Tamino, Webers Hüon, Cornelius‘ Nureddin, Halévys Eléazar, Meyerbeers Raoul (!), Verdis Duca und Riccardo, Schrekers Elis (im Schatzgräber), dazu Operetten-Charmeure von Eisenstein bis Danilo. Bei den Wagner-Aufführungen der Waldoper Zoppot, im „Bayreuth des Nordens“, war er Tannhäuser und Siegmund. Nach Bayreuth kam er nicht – doch das hatte er mit Jahrhundertgrößen wie Jadlowker, Slezak, Knote, Althouse gemein. 


Nahe beim Ideal des Wagnergesangs
Schuberts stimmliche Ausstattung evoziert das nahezu ideale Hörbild eines deutschen Heldentenors vom Schlage des Tenore drammatico, aber nicht mit dem hellstrahlenden, schmetterkräftigen, „messingschen“ Tongepräge eines Drammatico metallico (wie etwa Lorenz, Aldenhoff und die Mediterranen). Faktur, Gewicht und Volumen der Naturstimme entsprechen etwa denen der späteren US-Tenöre James King und Jess Thomas, sind also ideal zwischen Spinto und Drammatico angesiedelt und so in Ausgangsgewicht und Expan-sionsfähigkeit für jugendliches bis hochdramatisches Bühnenfach geeignet. Das Grund-Timbre hat männlich-herbe Färbung, mit einem Hauch von Körnigkeit. Man könnte sagen: Eine Tannhäuser- und Tristan-Stimme mit lyrischen Dimen-sionen und Fähigkeiten. Die Höhenlage entfaltet sich nicht strahlend oder gar gleißend, nicht heiß und trompetenhaft – vielmehr dominiert ein mattierter, melancholischer Ton, den der Sänger jedoch vielfältig zu nuancieren und umzufärben vermag.

Diese „mittlere“ Orientierung sowohl in heroische als auch in lyrische Werk- welten stellt Richard Schubert Tenor in allen Bereichen dramatischen Singens nahe zum Ideal; eine besonders glückliche Eignung für Fachzuweisungen von einiger Variabilität. Obwohl kein eigentlich von klassischer Gesangskunst geprägter Canterino, verfügt Schubert doch über sängerische Fähigkeiten, die ihn deutlich von den Trägern des  artikulativen, sprechdramatisch akzentuierten Stils der Bayreuther Cosima/Kniese-Ära abgrenzen. Seine Tonbildung entfaltet sich in den Resonanzräumen des Nasal- und Stirnhöhlenbereichs. Der Ton ist weit vorn platziert und breit formatiert, wird zwar konsequent „gedeckt“, doch schallkräftig eingesetzt. Kunstvolle Phrasierung mit dynamischer Klangpalette wird hingegen kaum angestrebt.

Aber das Spektrum an Farbnuancen und -varianten ist beachtlich: Der Sänger vermag sein nicht eigentlich sinnlich-attraktives  Material für rollengerechte Charakterisierung dezent und fein zu färben: jugendlich-frisch für Lohengrin, Walther, Pedro; gebrochen-elegisch für Tristan; kraftvoll-sanguinisch für Siegfried; romantisch-schwärmerisch für Goldmarks Assad. Insofern mag er nicht für sängerische Perfektion stehen, doch er ist ein mustergültiger Charak-tersänger, und er hat Substanz und Können für fachübergreifende Universalität. Bei all dem geht, noch aus den akustisch aufgenommenen Tonzeugnissen spürbar, die Anziehungskraft einer so kultivierten wie kraftvoll-virilen Persön-lichkeit von diesem Sänger und seiner Singgestaltung aus. In Verbindung mit einer vielbeschriebenen Attraktivität seiner Erscheinung und Ausstrahlung
muss das auf der Bühne glamouröse Wirkung gehabt haben.


Engagierter Künstler und Vermittler
Mit dem Wiener Eisenstein von 1937 vollzog Richard Schubert seinen Abgang von der Musikbühne. Mehrfach wird in biographischen Notizen darauf hingewiesen, dass er – als Folge allzu schwerer Belastungen aus ständigem Wirken im hochdramatisch-heroischen Fach? – um 1930 eine Stimmkrise zu bewältigen hatte. Mit technischem Können soll er sie weitgehend überwunden, doch nie ganz den vorherigen Standard wiedererlangt haben. Der Wiener Live-Ausschnitt in unserer Dokumentation mag dazu Hör-Indizien liefern. Bedauerlich aber ist die Begrenztheit des Vorrats an tönender Hinterlassenschaft dieses wichtigen, erinnernswerten Sängers. Man wüsste gern, wie sein Tamino, Alfredo, Manrico, Rodolfo, Nureddin, Paul, seine Strauss-Heldengestalten und seine Operetten-Bonvivants geklungen haben.

Richard Schubert blieb nach seinem Bühnenabschied vielfältig künstlerisch aktiv. Sein Stammhaus, inzwischen Hamburgische Staatsoper, engagierte ihn ab 1935 als Oberspielleiter. Als Opernregisseur wirkte er auch an den Theatern von Stettin und Osnabrück. Dann leitete er die Opernschule der Stadt Mannheim. Zuletzt war er auch als Gesangspädagoge in Hamburg angesehen und gefragt. Sein Nachruhm ist in der Hansestadt bis heute ungebrochen. Er gehört in die Reihe der bedeutenden Heldentenöre der ersten Hälfte des Jahrhunderts.

                                                                                                         
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© Klaus Ulrich Spiegel