Der virtuose Antipode

Alessandro Bonci - Bewahrer des Ideals

Die Tenorlegende Enrico Caruso (1873-1921) gilt Sammlern nicht nur als Pionier weltweiter Tondokumentation für Gesangsaufnahmen, sondern auch als zentraler Repräsentant eines „modernen“ Operngesangs. Bei aller Verwurzelung in der klassischen Schule des Singens sei er ein stilprägender Vertreter dramatischer und „veristischer“ Opernkunst gewesen, ein Überwinder der Stilprinzipien des Belcanto. Ein größerer Teil seiner tönenden Hinterlassenschaft bestätigt das – wenn auch mehr in maßstäblichen Interpretationen der Musikdramen von Verdi, Ponchielli, Gomes, der Grand-Opéra und den Veristen. Damit war der Tenor der Tenöre nicht eigentlich ein Begründer; man denke an Vorgänger oder Zeitgenossen wie Tamberlick, Tamagno, Escalais, Vignas, de Marchi, Giraud. Aber die weltweite Rezeption von Carusos Schallplatten dominierte und prägte die Stilentwicklung des Operngesangs für Jahrzehnte. Dies im Blick zu behalten ist wichtig für die Einordnung ähnlich weltberühmter Tenöre, die lebenslang der Stilkunst des Canto fiorito und damit des Belcanto verpflichtet blieben – obwohl sie genötigt waren, in Europa und Übersee auch im „neuen Repertoire“, in Werken des sog. Verismo, also Mascagni, Leoncavallo, Puccini, Giordano, Catalani, Franchetti, Cilea, aufzutreten. Neben dem beinahe exzentrischen Meister der Fiorituren Fernando de Lucia (der in London den Turiddu und in NYC den Canio kreierte!) war das vorrangig der venezianisch-emilianische Belcanto-Stilist Alessandro Bonci, dessen Karriere praktisch parallel zu der Carusos verlief – ein wenig früher begann, ein wenig später endete – und den die Zeitgenossen als unmittelbaren Antipoden, teilweise gar an denselben Häusern, erlebten und bewerteten.  
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Alessandro Bonci –  * 10.2.1870 Cesena. † 10.8.1940 Viserba /Rimini

Boncis Ruhm stand dem Carusos nicht nach. Doch sein Weg dahin war bedeutend kürzer als der des Tenor-Monolithen. Nach einer Schuhmacherlehre kam er als kaum 20jähriger ans Conversatorio in Pesaro zu den namhaften Pädagogen Pedrotti und Coen, ging dann zur Vervollkommnung zu Enrico delle Selle in Paris. Sein Bühnendebüt als Tenore lirico hatte er als Fenton in Verdis Falstaff (einem gerade drei Jahre alten Jahrhundertwerk) am schon damals als Spitzenbühne geltenden Teatro Regio in Parma. Ein Jahr später war er schon an der Scala di Milano, nun in der Hochleistungs- und Prüfstein-Partie des Belcanto: Arturo in Bellinis I Puritani.

Damit stand sein Platz in der Weltspitze bereits fest. Er erhielt Gastverträge in ganz Europa, trat 1899 in Paris, Madrid, Barcelona, Lissabon, Monte Carlo, Wien, Berlin, Prag, London auf. Für „märchenhafte Gagen“ erschien er in St. Petersburg, wo man auch in Zeiten des Verismo die Stilkunst der klassischen Gesangsschule bevorzugte. Doch auch der, wie man sagt, „Lyrische Verismo“ Puccinis wurde an Spitzenbühnen von den Ikonen des Golden Age dargeboten. In London sangen in La Bohème, frenetisch gefeiert, neben dem debütierenden Bonci: Nellie Melba, Charles Gilibert und Marcel Journet.

1905 nahm Bonci an einer Tournee durch Australien teil. Im November 1906 stand er dann als Bellinis Arturo in den Puritani neben Regina Pinkert erstmals auf der Bühne des Manhattan Opera House in New York City. Das Engagement (für 800 Golddollar pro Auftritt) war bewusst als Herausforderung an die Metropolitan Opera konzipiert – in einer der schwierigsten, weil mit Extremhöhen und Fiorituren beladenen Partien des Belcanto, die der Met-Star Caruso kaum bewältigt hätte, jedenfalls nie im Repertoire führte. Die Konkurrenz gehört zu den großen Legenden der New Yorker Opernhistorie

Bonci war bis 1908/09 Primo Uomo in Milano, London und New York. Er bot ein Partienspektrum vom Canto fiorito classico mit Mozart, Gluck, Rossini, Bellini, Donizetti, Cimarosa über die deutsche und französische Romantik mit Flotow, Thomas, Gounod, Bizet, Massenet ins dramatische Fach und zum Verismo mit Verdi, Ponchielli, Puccini, Mascagni, Leoncavallo, Giordano und gipfelte in Spinto-Partien wie Radames, José, Canio. Seine Domäne aber blieben die Bereiche des Tenore lirico  & di grazia mit Don Ottavio, Almaviva, Arturo, Tebaldo, Elvino, Edgardo, Gennaro, Ernesto, Nemorino, Fernand, Faust, Fra Diavolo, Guillaume Meister, Nadir, Lyonel, Oronte, Foresto, Alfredo, Duca, Fenton.

1907 schon lockte die Met den Caruso-Kontrahenten mit dem etwas anderen Repertoire an das bis heute „erste Haus“ Manhattans. Bonci debütierte am 22. November als gefeierter Duca im Rigoletto neben Sembrich und Stracciari, dann am 12. Dezember in einer Caruso-Kontrastpartie, dem Conte Almaviva in Rossinis Barbiere di Siviglia. Marcella Sembrich, Giuseppe Campanari und Fedor Schaljapin waren seine Partner.

Bis 1910  glänzte Bonci im Goldenen Hufeisen und auf Met-Tourneen an 122 Abenden mit 14 Partien. Er gastierte bis 1914 in Nord- und Südamerika, mit Schwerpunkten in Chicago, Buenos Aires, São Paulo, Rio de Janeiro, Montevideo. Ab 1913 war er wieder in Europa präsent, so bei den Centenarfeiern für Giuseppe Verdi in Rom, Milano, Parma. Mit Beginn des Weltkriegs nahm er von Amerika Abschied, diente bei der Arma azzurra d‘Italia, errichtete sich dann einen Landsitz in Viserba bei Rimini. Er trat wieder an der Scala und am Teatro Costanzi in Rom auf, erschien, bei Gastspielen gefeiert, in Madrid, Chicago und Buenos Aires. 1923-25 lebte er als gerühmter Gesangslehrer nochmals in New York. Seine letzten Auftritte hatte er 1925-26 an der Scala. Zurückgezogen lebte er bis 1940 in Milano und Viserba

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Boncis Tondokumente sind umfänglich und im stilistischen Radius weitgespannt. Fast sein ganzes Repertoire ist dokumentiert. Das Fach des Tenore di grazia dominiert mit schönen Beispielen aus dem Belcanto von Rossini, Bellini, Donizetti (dazu Mozart und Gluck). Verdi und Puccini sind mit Standardpartien des Tenors vertreten, die berühmtesten Stücke in Sitzungen aus verschiedenen Karrierephasen. Die ersten Aufnahmen stammen von 1905 aus Milano für Fonotipia. Einzelne Tracks wurden in der gleichen Zeit für Edison aufgenommen, einige davon erschienen noch auf Cylindern. 1912/13 entstanden in NYC dann jene Einspielungen, die am weitesten verbreitet wurden und heute die gesuchtesten sind, auch weil sie die für Acoustics beste Tonqualität präsentieren. 1927 entstand noch eine Handvoll elektrischer Aufnahmen, die heute kaum mehr zu finden sind.

Die Fonitipias wurden bei Bongiovanni in guter Klangfassung wiederveröffentlicht. Ihnen kommt besondere Bedeutung zu, da sie die Hochblüte der Bonci-Stimme dokumentieren, zugleich den Beginn der US-Karriere vor dem Debüt am Manhattan Opera House. An ihnen wurde von Gesangskritikern lange bemängelt, dass das klanglich wundervoll ausgewogene Organ des Sängers hier allzu vibratoreich, flatternd und eng eingesetzt werde. Die CD-Überspielungen belegen diese Kritik nicht, allenfalls in Spuren. Es dürfte sich um eine inzwischen korrigierte Fehleinstellung des Lauftempos gehandelt haben. Die Aufnahmen gehören zum Besten, was uns an Tondokumenten des Golden Age zur Verfügung steht.

Die Columbia Recordings von 1912/13 waren unvollständig auf einer GEMM-CD bei Pearl greifbar, das war in den 1980er Jahren. Die vorliegende Edition des HAfG versammelt erstmals auf CD alle Columbias inkl. Alternativtracks. Leider sind einige von Boncis Glanzstücken aus dem Belcanto nicht dabei – so Arturos „A te, o cara“, nach Steane und Kesting ein „Locus classicus der Gesangsgeschichte“. Man wird durch Elisir, Favorita, Luisa Miller, Gioconda entschädigt (sollte dennoch die Aufnahmen von 1905/06 zu hören trachten).

Boncis Aufnahmen sind eine beglückende Hörerfahrung. Sein substanzreich-lyrisches Organ entfaltet einen dezenten  Goldglanz, gebrochen durch eine hochfein-körnige Individualisierung Wir hören eine leichte, doch körperhafte Tenorstimme, bei Bedarf auch voll gesammelter Kraft, die aber nie ihre organische, noch weniger ihre stilistische Herkunft aus dem natürlichen “di grazia“ verleugnet. Sie wird mit Leichtigkeit produziert und geformt, in fabelhaftem Legato, dabei mit eher starker, doch nie angestrengter Atemspannung geführt. Die Platzierung am harten Gaumen ist so perfekt, dass der Tonstrom mit jeder Note eine neue Entfaltung im Raum zu erzeugen scheint. Die Spitzentöne bis übers D‘‘ werden sanft, doch hochpräzise attackiert, die Linie ist nie unterbrochen. Registerwechsel scheinen gar nicht zu existieren.

Kurzum, ein Meistersänger. Er hat nicht den dunklen Bronzeton eines Caruso, erzeugt nicht die „pyknischen“ Stau- und Schwell-Effekte des großen Neapolitaners, auch nicht die dramatische Durchschlagskraft eines echten Spinto. Wie Boncis Erscheinung eher klein und zierlich war, so auch sein natürliches Material, das er durch „Technik als Kunst“ expandieren und leuchten lassen konnte. Insofern war Bonci nur im Marktwert, nicht aber im Typus ein Caruso-Konkurrent. Dennoch war er ein Antipode. Er war es nach technischer Ausrüstung, Atemperfektion, Stilsicherheit, Luzidität, Clarté. Ohne jedes Kaschieren oder Finassieren, souverän, fast spielerisch, lässt er dem Hörer Lektionen ausgeprägter und ausgefeilter, geradezu flamboyanter Singkunst zuteil werden.

Alessandro Bonci war einer der großen, ja repräsentativen, zentralen Tenöre seiner Epoche. Ein Maßstab für jeden Nachfolger – und für das wissende Erleben von Gesangskunst.



                                                                                                          KUS

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© Klaus Ulrich Spiegel